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Robin Wall Kimmerer taucht in „Geflochtenes Süßgras“ tief in die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas ein. Sie macht an vielen Beispielen deutlich, auf welche Weise indigene Völker die Natur um sie herum wahrnehmen und mit ihr leben. Im Gegensatz zu den europäischen Einwanderern verstanden die Ureinwohner sich als Teil der Natur, von der sie Nahrung und Schutz bekamen, und der sie im Gegenzug Achtung und Bewahrung gewährten. Eine Lebensweise, von der wir heutigen Menschen viel lernen können.
Das Buch ist sehr „dicht“ und es fällt mir schwer, die zahlreichen wichtigen Aspekte herauszufiltern. Mit dicht meine ich vollgefüllt mit sachlichen Informationen und bewegenden Geschichten. So voll, dass ich fast jede Seite als wichtig markiere und meine Zusammenfassung ähnlich umfassend wie das Buch wäre.
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„Geflochtenes Süßgras“ wird mir als Hörbuch von Eva Mattes vorgelesen. Eva Mattes ist eine beeindruckende Hörbuch-Sprecherin, was für mich besonders an den vielen indigenen Ausdrücken deutlich wird, die sie flüssig und verständlich liest, während ich mich beim eigenen Lesen in den fremden Buchstabenkombinationen verheddere. Auch dem Text an sich lässt sich gut folgen. Sie liest weder reißerisch noch staubtrocken, sondern so, dass der Hörer wirklich berührt wird von den Geschichten und Erlebnissen der Robin Wall Kimmerer.
Nach nur wenigen Minuten haben sich jedes Mal so viele Gedanken angesammelt, dass ich erst einmal eine Pause brauche, um darüber nachzudenken. Oft brauche ich die Pause leider auch, um zu verkraften, wie sehr die westliche Lebensweise, mit der ich aufgewachsen bin alles um den Menschen herum missachtet und schädigt.
3 Die ehrenhafte Ernte
Für mich fällt die Zeit in der ich „Geflochtenes Süßgras“ lese und höre, in die Zeit der Aronia-Ernte. Aronia stammt meiner Erinnerung nach aus den USA. Der erwerbsmäßige Anbau erfolgte zuerst in Russland. Aroniabüsche sind anspruchslos, was den Boden und den Standort angeht. Außerdem sind sie extrem winterhart und wurden in Nordamerika von den Indigenen als Nahrungsquelle genutzt. Daher erscheint mir Aronia ein gutes Beispiel für meine Gedanken zu „Geflochtenes Süßgras“. Ich schaue ganz bewusst einmal nicht im Internet nach. Wenn Erinnerung und Intuition mich trügen, so gibt es sicherlich eine andere Pflanze, die als Beispiel für die ehrenhafte Ernte taugt. Forbye*, die ehrenhafte Ernte ist sicher nicht auf Landesgrenzen und Obstsorten beschränkt.
Ich überlege, ob und wie ich das, was Robin Wall Kimmerer über die ehrenhafte Ernte schreibt, umsetzen kann.
1. Nimm nie die erste Pflanze – nimm nie die letzte Pflanze
Das kenne ich bereits aus meinen Wildkräuterbüchern. Dies ist zum Glück nichts, das ich lernen muss. Es bezieht sich ganz klar auf das Sammeln von Wildpflanzen. Diese Pflanzen sind nach dem Sammeln einfach nicht mehr da. Sie können sich nicht mehr vermehren, kein anderes Tier, kein Mensch hat die Chance, auch noch etwas zu sammeln.
Doch wie lässt es sich bei der Aronia-Ernte umsetzen? Ich denke, es trifft nicht wirklich zu, weil ich nicht den ganzen Busch abschneide. Der Busch bleibt erhalten und trägt im nächsten Jahr neue Beeren.
2. Nimm nie mehr als die Hälfte
Gilt das auch für eine „Plantage“, die ich selbst gepflanzt habe? Eine ganz winzige Plantage von zehn Büschen? Es sind keine Wildpflanzen, deren Ernte ich mit Rehen oder gar Bären teilen müsste.
Ich ernte schließlich mehr als die Hälfte, aber nicht alles. Beeren, die noch nicht schwarzglänzend und vollreif sind, lasse ich hängen. Ebenso, die ganz winzigen und jene, die sich schlecht abzupfen lassen. Und schließlich auch diejenigen, die ich bei der ersten Ernte übersehe. Das alles soll bleiben für die Amseln, die mich darauf aufmerksam gemacht haben, dass es Zeit für die Ernte ist.
4 Alles hat seine Zeit
Das Buch ist erst sieben Jahre nach der Veröffentlichung „plötzlich“ ein Bestseller. Ich freue mich für Robin Wall Kimmerer, dass schon sieben Jahre nach dem Schreiben, die Zeit für ihr Buch gekommen ist. Wenn ich mir vorstelle, dass sie diesen Text vielleicht schon 1980 geschrieben hätte, dann hätte es sicherlich ebenfalls bis 2020 gedauert.
Geschichten, wie die über den Lachsfang wirken anachronistisch, romantisierend und weise zugleich. Vor 10 oder 20 Jahren als Klimawandel und eine enkeltaugliche Welt noch als Spinnerei abgetan wurde, hätte solch ein Text keinerlei Chance gehabt. Nun wirkt er prophetisch und zeigt überdeutlich, was in den letzten 50 Jahren schief gelaufen ist.
Ja, auch die Indigenen fangen und essen Lachs. Und gleichzeitig rotten sie ihn nicht aus, wie die heutigen Menschen. Für eine ertragsoptimierte Industrieproduktion ist es unvorstellbar, die ersten vier Tage dem Lachs zu zuzusehen und ihn unbehelligt vorbeiziehen zu lassen. Erst danach wird mit dem Fang begonnen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass genügend Lachs die Laichgründe erreicht, sich vermehren kann und nächstes Jahr wiederkommt. Sobald die Gestelle zum Trocknen der Fische voll sind, also genügend Vorrat gesammelt wurde, endet der Fang.
Da ist sie wieder die ehrenhafte Ernte: Nimm nicht die erste, nicht die letzte, nicht mehr als du brauchst. Mich erinnert es außerdem an Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“: Ein Fischer wird von einem Touristen darüber belehrt, dass er besser mehr Fisch fangen sollte, um reich zu werden, anstatt in der Sonne zu dösen. Doch der Fischer hat bereits ein reiches Leben. Auf ganz andere Weise und für den Touristen unsichtbar. Drittens ist es das Prinzip der in Australien erstmals formulierten Permakultur: Sorge für den Menschen; Sorge für die Erde; Teile gerecht. So gibt es überall Menschen, die mehr als ihren eigenen Vorteil sehen.
5 Das Tabak-Opfer
Robin Wall Kimmerer berichtet von der Tradition, der Natur im Austausch für ihre Gaben etwas Tabak zu opfern. Bei ihren Nachforschungen zeigt sich, dass selbst die Indigenen uneins darüber sind, was genau damit gemeint ist. Einige der Ältesten sind der Meinung, dass wir Menschen es nicht ansatzweise schaffen der Natur etwas zurückzugeben, das dem entspricht, was die Natur uns gibt. Andererseits haben wir Menschen vielleicht doch mehr zu geben als symbolische Dankbarkeit.
Robin Wall Kimmerer geht dieser Frage ganz konkret nach, als sie ein Wildniswochenende mit ihren Studenten verbringt. Die Studenten lernen aus Rohrkolben, die im Sumpf wachsen, viele verschiedene Dinge herzustellen.
„Wären die Rohrkolben wirklich ein Sumpfshop, dann würden die Sicherheitsportale am Ausgang laut Alarm schlagen, wenn wir mit unseren Kanus voll gestohlener Ware kommen.“
Im Gespräch mit den Studierenden beim Verarbeiten der Rohrkolben entsteht schließlich die Frage: „Wenn wir ethisch handeln wollen, müssen wir die Pflanzen dann nicht auf irgendeine Weise entschädigen?“.
6 Handeln statt reden
In „Geflochtenes Süßgras“ gibt es viele Beispiele von tatsächlich existierenden Menschen, die besonderes vollbringen, wie Franz Dolp, der versucht einen Wald aus Riesen-Lebensbäumen neu zu pflanzen. Es sind diese Art von Geschichten, die Bücher wie Robin Wall Kimmerer und Lucy F Jones für mich wertvoll machen. Geschichten von Menschen die bereits dabei sind etwas zu tun.
Die aktuellen Zukunfts- oder Transformations-Forscher fabulieren, was „man“ zukünftig einmal tun sollte oder welche Gremien gegründet werden sollten. Das ist alles Larifari. Es braucht kein hätte-könnte-sollte. Die Notwendigkeiten sind so offensichtlich, dass es weder einen Zukunftsforscher noch ein Transformationskomitee braucht. Es braucht konkrete Handlungen. Handlungen, wie die von Franz Dolp und seinem Wald oder die von Robin Wall Kimmerer die mit ihrem Buch auf das wertvolle Wissen der sogenannten Wilden aufmerksam macht.
* „forbye“, ein Wort, das ich aus der deutschen Version von Nan Shepherds „The living mountain“ kenne. Mitten im Satz steht dort das Wort „forbye“ und dazu ein Sternchen, welches auf den Anhang mit den Anmerkungen der Übersetzerin hinweist. Die Übersetzerin überlässt es dem Leser, selbst herauszufinden, wie das Wort am ehesten zu verstehen ist.
Ich finde es einerseits als sehr krass, dass es der Übersetzerin zu mühsam ist, ihre Arbeit zu machen. Andererseits mag ich diese mehrdeutige Bedeutung des Wortes, das im Schottischen für „beides“, „zudem“ oder „außerdem“ steht.